Nein zum Wahlzwang! Der Beschluss des Abgeordnetenhauses

Archiv Volksentscheid

Drucksache 16/2198 05.03.2009
16. Wahlperiode Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind über die Internetseite www.parlament-berlin.de (Startseite>Parlament>Plenum>Drucksachen) einzusehen.

Antrag

auf Annahme einer Entschließung

der Fraktion der SPD, der Linksfraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen

Gemeinsam statt getrennt. Für einen gemeinsamen Ethikunterricht!

Das Abgeordnetenhaus wolle beschließen:

Gemeinsam statt getrennt. Für einen gemeinsamen Ethikunterricht!

 

Liebe Bürgerinnen und Bürger,

das Abgeordnetenhaus von Berlin sieht im derzeitigen gemeinsamen Ethikunterricht eine große Chance, Berlin toleranter und demokratischer werden zu lassen. Der Ethikunterricht bildet eine wichtige Ergänzung für die Erziehung an Berliner Schulen. Er soll und kann bekenntnisorientierten Religionsunterricht nicht ersetzen.

 

Das Abgeordnetenhaus sagt deshalb Nein zur Einführung eines Wahlpflichtbereichs Ethik/Religion in der Berliner Schule, weil:

                        bereits heute in Berlin neben dem Ethikunterricht auch Religionsunterricht für alle     angeboten wird;

                        durch einen Wahlpflichtbereich Schülerinnen und Schüler gezwungen würden, sich zwischen Ethik und Religion zu entscheiden und Religion und Ethik dadurch zu Konkurrenzfächern würden;

                        die von der Initiative Pro Reli proklamierte Wahlfreiheit zu einem Abwahlzwang von Ethik oder Religion führen würde;

                        vom Land Berlin bereits heute der Religions- und Weltanschauungsunterricht mit jährlich rund 50 Millionen Euro unterstützt wird.

 

Ethik ist ein Fach, das verbindet. Gemeinsam zu leben lernt man am besten gemeinsam.

In Berlin leben Menschen aus über 150 Nationen mit unterschiedlicher Herkunft, Kultur, Glaubensrichtung und Weltanschauung. Schule hat die Aufgabe, Kinder zu einem friedlichen, demokratischen Zusammenleben in gegenseitigem Respekt zu erziehen. Deshalb gibt es seit 2006 den gemeinsamen Ethikunterricht für alle Schülerinnen und Schüler der 7. bis 10. Klasse. Er sensibilisiert für Gemeinsames und für Unterschiede, für Verständigung und Toleranz. Das kann er nur, weil er als Pflichtfach konzipiert ist, an dem alle Schülerinnen und Schüler gemeinsam teilnehmen – nicht getrennt nach ethnischer, weltanschaulicher oder religiöser Herkunft. Auch deshalb ist Ethik nicht abwählbar. Denn das Besondere an diesem Fach ist das Verbindende. Das Bundesverfassungsgericht würdigt dies in seinem Beschluss vom März 2007. Dort wird ausdrücklich festgestellt, dass ein gemeinsamer Pflichtunterricht in Ethik die Integrationsziele der Berliner Schule besser erfüllen könne als eine Separierung nach Glaubensrichtungen oder eine Aufspaltung auf verschiedene Fächer.

 

Religions- und Weltanschauungsunterricht soll in Berlin weiterhin freiwillig sein.

Anders als in den meisten Bundesländern bieten in Berlin die Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften selbst ihren Religionsunterricht in den Schulen an. Das wird nahezu vollständig vom Staat finanziert. Das Modell hat in Berlin eine lange Tradition. Es ist durch das Grundgesetz im Artikel 141 gesichert. Schülerinnen und Schüler haben die Möglichkeit, von der 1. Klasse an freiwillige Unterrichtsangebote von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu wählen. Derzeit gibt es in Berlin evangelischen, katholischen, jüdischen, ortho-doxen, sunnitisch-schiitischen, alevitischen und buddhistischen Religionsunterricht und das Fach Humanistische Lebenskunde. In den Grundschulen nehmen ca. 75 Prozent aller Schülerinnen und Schüler an einem der bekenntnisorientierten Unterrichtsangebote in den Schulen teil. Das Land Berlin gibt für den Religions- und Weltanschauungsunterricht in den Schulen jährlich rund 50 Millionen Euro aus. Daran hat die Einführung eines gemeinsamen Fachs Ethik nichts geändert. Wir wollen diese Vielfalt erhalten und jedem/jeder die Möglichkeit geben, nach eigener Wahl neben dem Ethikunterricht an einem dieser Fächer teilzunehmen.

 

Ethik- und Religionsunterricht. Eines soll das andere nicht ausschließen.

Ein Wahlpflichtbereich Ethik/Religion, wie von der Initiative Pro Reli vorgeschlagen, würde bedeuten, dass die Schülerinnen und Schüler gezwungen werden, sich zwischen dem Fach Ethik und einem Religionsunterricht bzw. dem weltanschaulichen Fach Humanistische Lebenskunde zu entscheiden. Die Umsetzung dieses Vorhabens würde den verbindlichen gemeinsamen Ethikunterricht für alle Schülerinnen und Schüler abschaffen. Die Initiative Pro Reli argumentiert, durch einen Wahlpflichtbereich würde Schülerinnen und Schülern eine "freie Wahl" ermöglicht. Richtig ist vielmehr: Sie könnten dann nicht mehr an beiden Fächern teilnehmen. Das würde ihre Wahlfreiheit einschränken und ein gemeinsames Lernen verhindern.

 

Miteinander friedlich zusammenleben. Grundwerte akzeptieren. Gemeinsam lernen.

Die Regeln unseres Grundgesetzes sind wie die Menschenrechte die gemeinsame Basis unserer Gesellschaft. Ihre Kenntnis und ihre Beachtung ermöglichen erst, dass wir miteinander friedlich zusammenleben können. Der gemeinsame Ethikunterricht zielt auf die bewusste Akzeptanz dieser Grundwerte und fördert so die gewaltfreie Lösung von Konflikten und das wechselseitige Verständnis. Er erreicht alle Schülerinnen und Schüler ab der 7. Klasse. Grundwerte werden so zur gemeinsamen Erfahrung. Deshalb ist es ein Gewinn, wenn sich alle Schülerinnen und Schüler aus ihren verschiedenen Wurzeln heraus in einem gemein-samen Ethikunterricht den zentralen Grundwerten wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität, Toleranz und Verantwortung nähern. Wenn sie gemeinsam lernen, sich an ihnen zu orientieren.

 

Eigene Kultur besser verstehen. Fremde Kulturen entdecken. Gemeinsamen Ethikunterricht erhalten.

Religionen sind wie Kunst, Wissenschaft, Recht, Philosophie und Ethik wesentliche Teile des Gedächtnisses einer jeden Kultur. Deshalb gehört Grundwissen darüber zur Allgemeinbildung eines jeden Weltbürgers und eines jeden Berliner Bürgers. Alle Schülerinnen und Schüler brauchen diese Kenntnisse, deren Vermittlung das Schulgesetz für den Ethikunterricht vorsieht, unabhängig davon, ob sie darüber hinaus einen bekenntnisgebundenen Religions- oder Weltanschauungsunterricht besuchen. Das Schulgesetz sieht für den Ethikunterricht auch die Kooperation mit Bekenntnisgemeinschaften vor. Und so gehört es selbstverständlich zu einem guten Ethikunterricht, dass alle Schülerinnen und Schüler auch Kirchen, Moscheen und Synagogen kennen lernen und mit Vertretern von Religionsgemeinschaften sprechen.

 

Kirchen und Religionsgemeinschaften sind und bleiben wichtige gesellschaftliche Institutionen für die Weltstadt Berlin.

Kirchen und Religionsgemeinschaften leisten einen wichtigen Beitrag für die Wertebildung und den Zusammenhalt unserer Stadtgesellschaft. Kirchen sind Orte des Glaubens und des Miteinanders. Ohne die vielen Menschenrechtsinitiativen und sozialen Projekte der Kirchen und Religionsgemeinschaften für Flüchtlinge, Kranke und Alleingelassene wäre unsere Stadt ärmer und kälter. Aber die Aufgabe, Kinder und Jugendliche zu einem friedlichen und toleranten Zusammenleben zu befähigen, kann der Staat nicht delegieren. Religionsunterricht ist nach dem Grundgesetz keine allgemeine Ethik und auch keine Religionskunde. Er unterscheidet sich grundsätzlich von einem allgemeinbildenden Ethikunterricht. Das Fach Ethik vermittelt Allgemeinwissen zu ethischen Fragen und zu Religionen und Weltanschauungen. Das ist für alle Schülerinnen und Schüler - unabhängig von ihrer religiösen oder weltanschaulichen Bindung - wichtig. Im staatlich geförderten Religionsunterricht können sich die Schülerinnen und Schüler mit einzelnen Religionen und Konfessionen ihrer Wahl vertieft beschäftigen.

Das Wahlpflichtfach ist der falsche Weg, weil Ethikunterricht und Religionsunterricht damit gegeneinander ausgespielt werden. Das Abgeordnetenhaus wirbt weiterhin für einen breiten gesellschaftlichen Konsens über Wertevermittlung in der Schule, die die Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften durch Kooperation einbezieht, ohne das gemeinsame Lernen miteinander und voneinander in Frage zu stellen.

 

Das Abgeordnetenhaus wirbt dafür, dass dieses fortschrittliche Berliner Modell erhalten bleibt. Es lehnt den Gesetzentwurf der Initiative Pro Reli ab und bittet Sie, bei der Abstimmung am 26. April 2009 mit "NEIN" zu stimmen.

"NEIN" zum Wahlpflichtbereich Ethik/Religion!

Berlin, den 5. März 2009

 

 

Müller und die übrigen Mitglieder

der Fraktion der SPD

 

 

 

Bluhm und die übrigen Mitglieder

der Linksfraktion

 

 

 

Eichstädt-Bohlig Ratzmann

und die übrigen Mitglieder

der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen

 

 

 

Die obige Drucksache des Abgeordnetenhauses
AH-Entschließung_zum_Ethikunterricht_v._
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