Archiv Volksentscheid

Wir lieben frei gewählten Religions- und Weltanschauungsunterricht!

Sollte sich, wider Erwarten, Pro Reli mit seinem Gesetzentwurf beim Volksentscheid durchsetzen, so ergeben sich erstaunlicherweise für den Religions- und Weltanschauungsunterricht keine Verbesserungen, sondern schon heute erkennbar massive Verschlechterungen.

Hier sechs Gründe, warum sich der verstaatliche Religions- und Weltanschauungsunterricht als Wahlpflichtfach nach den Vorstellungen von Pro Reli verschlechtern würde:

  1. Die bisherigen Gruppengröße des kirchlichen Religionsunterrichtes von 15 Teilnehmern in der Grundschule und 12 in der Oberschule würden bei der von „Pro Reli“ geplanten Wahlpflichtfachkonstellation sicher der allgemeinen Frequenzsituation in der Berliner Schule angepasst werden, d.h. die Frequenzen dürften sich verdoppeln, der Lehrkräfteeinsatz würde sich halbieren! Oder glaubt jemand, die Senatsbildungsverwaltung beließe den dann alternativen Ethikunterricht mit Normalfrequenzen um etwa 28 SchülerInnen, den Religionsunterricht parallel bei 15 bzw. 12?
  2. Daraus ergäben sich weitreichende organisatorische Konsequenzen: Schulen im Westteil Berlins mit hohem Migrationsanteil und die meisten Schulen im Ostteil der Stadt mit geringer oder fast keiner Nachfrage nach Religion bzw. Weltanschauung könnten auch auf Jahrgangsebene der Schule keine Angebote für diesen Unterricht organisieren. Das bedeutet die Zusammenfassung mehrerer Jahrgänge (Altersmischung) oder sogar schulübergreifende Angebote.
  3. Bei schulübergreifenden Angeboten ist wegen des Ortswechsels der Schüler fast sicher von einem Unterricht ausschließlich in den Randstunden oder am Nachmittag auszugehen, was Pro Reli ja so bei der gegenwärtigen Regelung beklagt, obwohl sie nicht durchgehend die Regel ist!
  4. Durch die Aufteilung der SchülerInnen nach Religionen, Konfessionen und Weltanschauungen oder Ethik schon ab der Grundschule gehen zahlreiche Kinder und Jugendliche ohne Religionszugehörigkeit oder z.B muslimischer Orientierung, die bislang kaum ein Angebot hatten, nicht mehr in den christlichen Religionsunterricht – dessen Schülerzahl wird auch deshalb wahrscheinlich sinken.
  5. Religionslehrkräfte können bisher wegen ihres Status zu keinem Vertretungsunterricht verpflichtet werden. Religionsunterricht fiel deshalb nur aus, wenn die Lehrkraft erkrankte oder anderweitig fehlte. Als „normale“ staatliche Lehrkräfte können diese jedoch jederzeit zu Vertretungen herangezogen werden, was in anderen Fächern leider häufig üblich ist und zu erheblichen Ausfällen führen würde.
  6. Auch die Tatsache, dass Fachlehrkräfte für Religion (Katecheten) entsprechend § 129 Absatz 4 Schulgesetz nur eine persönliche Übergangsregelung mit Stichtag für den von den Glaubensgemeinschaften angebotenen Religionsunterricht aufweisen, nicht aber die mittlerweile nach § 13 Absatz 2 notwendige Lehrbefähigung, führt bei einer Verstaatlichung dieses Unterrichts in eine ungewisse Zukunft. Ob der Finanzsenator der Einstellung von etwa 600 Fachlehrkräften ohne schulgesetzlich erforderliche Lehrbefähigung zustimmen würde, ist fraglich. Gerade hat sich die Senatsbildungsverwaltung durch Privatisierung eines großen Teils des Hort- und Kindertagesstättenangebotes entledigt und viele seiner als ErzieherInnen Beschäftigten aus dem Staatsdienst entlassen. An die komplette Übernahme der Fachlehrkräfte für Religion nach einer ausdrücklich vom Senat und den Regierungsfraktionen abgelehnten Regelung von Pro Reli zu glauben, wäre deshalb völlig unrealistisch.

Was sagt Herr Dr. Lehmann dazu? Dr. Christoph Lehmann (Vorsitzender Pro Reli e. V.): „Zu Ihrer Frage nach den arbeitslosen Religionslehrern: Das ist mir völlig egal. Ich bin kein Gewerkschaftsvertreter und nicht für die Religionslehrer verantwortlich, sondern ich bin hier, weil wir ein gesellschaftspolitisches Anliegen vertreten. Wie die Kirchen das dann hinterher regeln, ist nicht mein Problem. – Es tut mir leid, Herr Schultz,(verantwortlich für den Religionsunterricht in Berlin) aber das ist die harte Realität.“ Fundstelle: www.parlament-berlin.de à parlamentarische Materialien à Ausschussprotokolle à Ausschuss für Bildung, Jugend und Familien à Wortprotokoll der Sitzung vom 22. Mai 2008

Wem ernsthaft an der guten Existenz des Religions- und Weltanschauungsunterrichts und der Beibehaltung seiner organisatorischen Privilegierung gelegen ist, sollte ein Votum für Pro Reli bewusst ablehnen, so komisch das angesichts der lauten Propaganda klingen mag!

Gerhard Weil, für die GEW Berlin